Bettlägerige Geheimnisse
Eggingen, Collection Montagnola, 2016
In den vier Geschichten dieses Bandes geht es um Schlüsselerlebnisse, die dazu führen, dass die Hauptfiguren ihr Leben neu gestalten und endlich zu ihrem wahren Ich finden. Es geht um die Befreiung von gesellschaftlichen Normierungen und um Fragen, die uns alle beschäftigen: das Leben kurz vor dem Tod, das Menschsein in all seinen Schattierungen, die eigene Identität, innere Spannungen bis hin zum großen Vakuum, die Suche nach dem, was hinter bestimmten Grenzen liegt. Kurz gesagt: Mirjam Richner hat bewegende Geschichten an der Baumgrenze des Seins geschrieben.
Leseprobe «Bettlägerige Geheimnisse»:
Die Dunkelheit pocht an die Stirn und ich muss ein wenig weinen.
Manus Gesicht ist kalt. Ich fasse ihr versehentlich ins Auge; es ist offen und reagiert nicht auf die Berührung. Als ich das Ohr an ihre Brust lege, finde ich meinen Verdacht bestätigt: Tot. Einen Moment lang bin ich schrecklich irritiert; ich weiss gar nicht, was ich jetzt fühlen müsste. Trauer? Entsetzen? Angst? Ich fühle teilweise geschmolzenen Schnee im Herzen, einen rostigen Nagel im Hirn und ein ungewöhnliches Pochen im rechten Arm. Seit ich denken kann, ist Manu meine Freundin gewesen. Vielleicht sollte ich jetzt laut weinen? Oder beten? Die Augen schliessen möchte ich ihr nicht; es könnte sein, dass sie es lieber hätte, wenn sie offen bleiben. Ich finde auch, dass es nicht mein Recht ist, mit dem Schliessen der Augen einen Akt durchzuführen, der vorher ausschliesslich in ihren Aufgabenbereich gefallen ist. Manu vor Gott: Ungeschminkt, aber mit offenen Augen.
«Tja Manu», höre ich mich sagen, «da hast du mich ganz schön im Stich gelassen, was?»
Der Klang der eigenen Stimme tut gut.